Michail Chodorkowski über die Kriegs-Ziele des Kreml. Hier spricht ein Putin-Feind

May 29, 2022

 

Foto: Julian Röpcke, Michael Hübner

von: Julian Röpcke

Drei Monate Krieg in der Ukraine und kein Ende in Sicht. Ex-Oligarch, Putin-Feind und langjähriger politischer Häftling Michail Chodorkowski glaubt nicht, dass es Putin um „Nazis“ oder den Wiederaufbau der Sowjetunion geht, sondern allein darum, sich und seine Kumpane zu bereichern.

Im großen BILD-Interview am Rande des „Anti-Putin-Gipfels“ in Litauen hat er BILD seine Sicht auf den Krieg in der Ukraine, Kanzler Scholz’ Weigerung, schwere Waffen zu liefern und den wahren Grund des russischen Einmarschs in die Ukraine erklärt.

BILD: Welche Haltung haben Sie als Russe zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine? Was meinen Sie mit „nicht gewinnen“?

Chodorkowski: „Das ist eine Frage der Wahrnehmung. Anfangs verkündete Putin, sein Ziel sei die ‚Denazifizierung‘ der Ukraine und die Einnahme von Kiew. Wenn er also Kiew nicht erobern kann, hat er den Krieg bereits nicht gewonnen. Das Problem besteht darin: Wenn er einen Teil der Ukraine erobert, wird der Krieg nur für bestimmte Zeit aufhören – und zwar nicht lange.“

BILD: Auch der deutsche Kanzler sagt, Putin darf den Krieg „nicht gewinnen“. Dass er ihn verlieren muss, sagt er nicht. Wie bewerten Sie das?

Chodorkowski: „Ich tue mich schwer damit, die Worte von Kanzler Scholz zu kommentieren. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen: Wenn den Ukrainern die Waffen, die sie anfordern, nicht geliefert werden, wird es bald wieder zu Kämpfen um Kiew kommen.“

BILD: Sie sprechen die schweren Waffen an, mit deren Lieferung sich der Westen sehr schwertut. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Chodorkowski: „Ich denke, westliche Politiker haben vor allem Angst vor Putin. Sie glauben, sich nicht in einem Krieg zu befinden. Deswegen glauben sie auch, dass die Lieferung bestimmter Waffen zu einer Eskalation führen oder sie zu einer Kriegspartei machen könnte. Das ist eine sehr dumme Haltung.“

BILD: Wieso?

Chodorkowski: „Aus Putins Sicht befinden sich westliche Politiker und Länder bereits im Krieg mit Russland.“

BILD: Bei unserem letzten Gespräch sagten Sie, dass Putin ein Mafioso sei. Jetzt sagt Putin: Ich werde die Blockade von Odessa beenden und das Getreide nach Afrika durchlassen, wenn der Westen die Sanktionen gegen uns beendet. So eine Erpressung klingt haargenau wie von einem Mafioso.

Chodorkowski: „Was haben Sie von Putin denn anderes erwartet? Ich sehe genau das, was ich erwartet habe. Seine Befehlshaber sprechen recht offen über dieses Thema. Sie sagen offen: die Ukraine hat guten Boden, und wir müssen ihn uns einfach nehmen. Ihre Soldaten sind schlicht und einfach Diebe, Räuber. Wir haben mehrere Vorfälle untersucht. Sie nehmen sich viele hundert Kilo an Sachen und schicken sie nach Hause.“

BILD: Aber offiziell verfolgt Russland doch ein anderes Ziel in der Ukraine? Chodorkowski: „Einem Teil der Bevölkerung sagen sie, die Sowjetunion müsse wieder her. Zu einem anderen Teil der Bevölkerung sagen sie: Da sind Faschisten und Nazis. Doch in Wirklichkeit ist das einfach nur ein Raubzug.“

BILD: Wie meinen Sie das?

Chodorkowski: „Für die oberste russische Ebene ist dies eine Gelegenheit, das Geld des ukrainischen Staatshaushalts zu stehlen. Auf der mittleren Ebene wollen sie sich einfach das Land und das Getreide unter den Nagel reißen, und auf der unteren Ebene wollen sie einfach iPads klauen. Sie klauen dir die Unterwäsche! Das ist dokumentiert.“

BILD: Aber die Welt glaubt doch, Putin verfolge große geopolitische Ziele in der Ukraine?

Chodorkowski: „Ich weiß nicht, welche Vorstellungen Putin hat. Vielleicht sieht er sich als Herzog Wladimir. Was weiß ich. Was seine Vasallen betrifft, so sind das einfach Banditen. Wenn mich jemand fragt, was ich von den russischen Soldaten halte, dann lautet meine Antwort: Was für russische Soldaten sollen das sein? Das sind einfach Banditen.“

BILD: Und passiert das in den Wirren des Krieges oder gibt es dafür strukturell Gründe? Chodorkowski: „Die Diebstähle sind kein Zufall. Das ist schlicht und einfach ein Raubzug. Das Ausmaß der Aggression, der Unterdrückung, ist keine militärische Aggression, sondern persönliche Aggression – gegen Frauen, Kinder. So benimmt sich kein Soldat. So benimmt sich ein Räuber. In den 1990ern konnte ich mich mit diesen Banditen auseinandersetzen. Ich saß im Gefängnis, befand mich in einem Raum mit Banditen. Da gibt es keinerlei Unterschied. Es macht keinen echten Unterschied, dass die einen in Charkiw rauben und die anderen in Moskau.“

First published in the Bild.de