Cicero: Die Vorwürfe sind absurd?

April 25, 2007
Interview mit Juri Schmidt, Robert Amsterdam und Karina Moskalenko – den Anwälten von Michail Chodorkowski

Frau Moskalenko, Herr Schmidt, Herr Amsterdam ? Ihr Mandant ist zu acht Jahren Haft verurteilt, nun drohen ihm weitere 15 Jahre im Gefängnis. Ist Chodorkowski mittlerweile ein hoffnungsloser Fall für die Verteidigung?
Schmidt: Unter der Regierung Putin wird Chodorkowski nicht aus dem Gefängnis kommen. Aber danach werden wir sehen.
Moskalenko: Unser Mandant glaubt nicht nur, dass er aus dem Gefängnis kommt, er ist auch davon überzeugt, dass ihm Recht widerfahren wird.

Was bedeutet Recht in der Russischen Föderation?
Moskalenko: Auch in der Russischen Föderation gilt zumindest der Mindeststandard des Europarats ? und das bedeutet: Jeder Angeklagte hat das Recht auf einen fairen Prozess.

Was hält die Staatsanwaltschaft Ihrem Mandaten jetzt vor?
Schmidt: Sie wirft ihm vor, er habe sich zusammen mit seinem ehemaligen Partner Platon Lebedev widerrechtlich Öl angeeignet. Außerdem beschuldigt sie ihn der Geldwäsche.

Zu Recht?
Schmidt: Als Jukos-Chef soll Chodorkowski jenen Ölzulieferfirmen, die zum Konzern gehörten, einen Preis gezahlt haben, der unter dem damaligen Weltmarktpreis lag. Das Öl habe Chodorkowski dann zu Weltmarktpreisen weiterverkauft und dabei umgerechnet 33 Milliarden Dollar verdient. Das mag sein Geschäft gewesen sein, aber illegal war es nicht ? zumal der Preis nicht unter den Herstellungskosten lag. Der heutige Staatsbetrieb Rosneft macht das Gleiche. Es ist die Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden, für seine Anleger möglichst gute Konditionen auszuhandeln. Die Vorwürfe sind absurd. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn der Geldwäsche, weil er die Gewinne seines Unternehmens reinvestiert hat! Und obwohl die Anklage so absurd ist, ist die Situation der Verteidigung so kompliziert. Dies ist kein juristischer Fall, sondern ein politischer, aber als Anwalt ist man natürlich bemüht, ihn als juristischen Fall zu lösen; dann aber legitimiert man das Spiel des Kremls. Er verwendet den Prozess als Mittel, um seine politischen Ziele zu legitimieren, und er unternimmt alles, um zu verhindern, dass wir überhaupt in einem sehr eingeschränkten juristischen Rahmen aktiv werden können.

Wie sieht dieser Rahmen aus?
Moskalenko: Um Michail Chodorkowski zu verteidigen, müssen wir jetzt von Moskau aus 6500 Kilometer weit nach Tschita in Sibirien reisen. Die Staatsanwaltschaft hat unseren Mandanten dorthin verlegt, damit es schwieriger ist, ihn zu verteidigen. Die Verkehrsanbindung ist schlecht. Wenn man Pech hat, braucht man zwei Tage, um nach Tschita zu kommen. Dabei verstößt es gegen das Gesetz, dass Chodorkowski in Tschita inhaftiert ist und nicht in der Region von Moskau. Wir haben dagegen vergeblich geklagt. Das schwierigste Erlebnis hatte ich Anfang Februar, als wir zu Chodorkowski nach Tschita fliegen wollten.

Was ist passiert?
Moskalenko: Wir waren fünf Anwälte. Am Moskauer Flughafen Domodjedowo wurden wir von der Polizei abgefangen. Sie wollte unsere Habseligkeiten sehen, insbesondere die Papiere. Das verletzt aber das Recht auf Verteidigung unseres Mandanten. Ein hoher Polizeibeamter begann, unsere Papiere mit einer Videokamera zu filmen. Ich sagte ihm, er habe dazu kein Recht und streckte meine Hand schützend über die Papiere. Der Mann entgegnete: ?Oh, Sie kämpfen also gegen die Polizei.? Da habe ich begriffen: Diese Menschen kennen keine Grenzen.

Warum sind Sie überzeugt, dass die Regierung Putin dahintersteckt?
Schmidt: Das Flugzeug wurde nur wegen uns eine Stunde zurückgehalten. Da sehen Sie, von wie weit oben der Befehl kam. Und in dem Moment, in dem wir Anwälte zum Flughafen kamen, wartete schon ein hoher Polizeibeamter auf uns. Er nahm unsere Pässe und unsere Tickets und sagte, wir sollten mitkommen. Man brachte uns in eine Art Aufenthaltsraum, den ich für einen Moment verlassen wollte, um eine Zigarette zu rauchen, aber ein Polizist schlug die Tür vor mir zu. ?Heißt das, wir sind festgenommen??, fragte ich und nahm mein Telefon, um einen Journalisten anzurufen, im selben Moment klingelte es. Ein Journalist vom Radiosender ?Echo Moskau? war am Apparat ? dem einzigen unabhängigen Sender im gesamten Land. Er wollte einen Kommentar zu irgendeinem Thema von mir haben, aber ich sagte ihm, ich müsse ihm etwas erzählen. Sobald der Journalist begriff, was ich gerade sagte, schaltete er mich live in die Sendung. Wenig später klingelte das Telefon unentwegt, Associated Press, Agence France Press und viele andere riefen an. Die Anzahl der Anrufe beeindruckte die Polizei. Ein Mann in Zivil ? vermutlich vom Geheimdienst ? tauchte auf und verschwand mit einigen Polizeibeamten. Sie kamen wieder und erklärten, wir könnten jetzt zu unserem Flugzeug gehen. Ohne Zweifel haben die Journalisten uns gerettet.

Sie sagten, dies sei ein politischer, kein juristischer Prozess. Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für das Verfahren gegen Chodorkowski?
Schmidt: Chodorkoswki war der Einzige, der sich nicht dem Kreml unterwerfen wollte. An ihm will die Regierung ? in alter Tradition ? ein Exempel statuieren.

Was können Sie als Jurist in Russland dagegen unternehmen?
Schmidt: In unserem Land gibt es keine vorhersehbaren juristischen Schritte mehr. Das alles ist ein psychologisches Spiel, mit Recht hat das wenig zu tun. Die Staatsanwaltschaft macht gemeinsame Sache mit dem Geheimdienst FSB, und das Gericht ist voreingenommen. Entscheidend ist, dass wir mit diesem psychologischen Spiel zurechtkommen, ein Spiel gegen Chodorkowski und gegen uns. Es ist ein Spiel jenseits der Regeln.

Wenn die Lage so aussichtslos ist, was können Sie dann überhaupt für Ihren Mandanten ausrichten?
Schmidt (seufzt tief): Der Grund meines Seufzers ist, dass ich weiß: Wir sind hier eine Handvoll Juristen gegen einen riesigen Panzer.
Sie meinen das russische Regime.
Schmidt: Ja, der Staatsapparat kämpft mit vielen Mitteln. An dem Tag, als Chodorkowski vom Gefängnis Krasnokamensk nach Tschita verlegt wurde, haben sie seinen Vater verhört, der danach tief verstört war. Unter Breschnjew und Chruschtschow hat es diese Art von Spiel nicht gegeben, aber unter Stalin. Sacharows Witwe hat zu unserem Kollegen Robert Amsterdam gesagt, seit dem Jahr 2003 befänden wir uns wieder im Russland unter Stalin ? und sie hat Recht.

Wenn Sie selbst so wenig für Chodorkowski unternehmen können, welche Hoffnung haben Sie noch für ihn?
Schmidt: Wir hoffen auch auf den Westen. Als Chruschtschow den Eisernen Vorhang ein wenig hochhob und versuchte, die Wirtschaft der Sowjetunion zu beleben, brauchte er den Westen. Das war danach immer so: Die Sowjetunion brauchte den Westen, um Weizen zu kaufen oder um Kredite aufzunehmen, mit denen sie Technologien beschaffte. Immer hatte der Westen einen gewissen Einfluss. Leider hat Putin mit den hohen Ölpreisen ein Geschenk des Teufels bekommen. Ausgerechnet jetzt ist Russland nicht auf das Geld des Westens angewiesen. Offenbar lässt sich der Westen von seinem Energielieferanten erpressen. Chordorkowski fragt: ?Wovor hat der Westen Angst? Russland kann doch nicht aufhören, den Westen mit Öl und Gas zu beliefern, das wäre viel zu teuer. Russland kann den Westen nicht erpressen.?

Also soll der Westen Druck auf Russland ausüben?
Schmidt: Das Sowjetregime wollte Sacharow ins Gefängnis stecken, aber es hat sich nicht getraut, weil der Westen hinschaute. Das Sowjetregime wollte Solschenizyn nach Sibirien schicken, aber es hat sich nicht getraut und entließ ihn in den Westen. Es gibt jede Menge Beispiele aus der Vergangenheit.
Amsterdam: Aber heute ist es anders. Ihr früherer Bundeskanzler Gerhard Schröder hat auch noch dabei geholfen, den Jukos-Konzern zu zerschlagen.

Wie das?
Amsterdam: Während die ganze Welt den Prozess gegen Chodorkowski verdammte, applaudierte Ihr ehemaliger Bundeskanzler. Schröder unterstützte die Versteigerung der Jukos-Anteile, die unter der Federführung einer deutschen Bank ? Dresdner Kleinwort Wasserstein ? finanziert worden ist. Damit kommt Dresdner Kleinwort eine Schlüsselrolle bei der Enteignung zu, einer Firma, die dazu absolut keine rechtliche Grundlage hat. Russland ist noch dabei, diesen Schritt zu legitimieren, aber deutsche Banken sind gleich vorangeprescht.

Wollen Sie die Deutschen jetzt bei ihrer Ehre packen?
Schmidt: Nein, mir geht es um etwas anderes. Ich erinnere mich an die Zeiten Breschnjews, als ich mit Ausländern redete und sie um Unterstützung in Menschenrechtsfragen bat. Ich sagte, sie könnten auch ihrem Land helfen, wenn sie die Sowjetunion als eine gefährliche Macht bekämpften. Heute warne ich: ?Vorsicht, ihr helft gerade bei der Geburt eines Monsters.? Putin hat die Nichtregierungsorganisationen abgeschafft, und dann hat er in den Westen geschaut, was passiert. Er stellte fest: nichts Besonderes. Also machte er weiter und schaffte die meisten freien Medien ab. Erst machte er kleine Schritte, bis er merkte, dass er alles machen kann, weil sich niemand darum schert. Unter Jelzin konnte man die Zahl der politischen Gefangenen an der Hand abzählen, heute gibt es mehrere Dutzend, wenn man die Häftlinge aus dem Kaukasus nicht mitzählt. Falls der Westen Putin nicht zu verstehen gibt, dass er sein Spiel durchschaut, dann geschieht mit Chodorkowski das, was mit Kirow und all den Männern unter Stalin passiert ist.

Glauben Sie, der Fall Chodorkowski könnte der Anfang einer Reihe politisch motivierter Verfolgungen sein?
Schmidt: Mit Sicherheit wird das Regime immer skrupelloser agieren. Im Moment mag das alles nicht so schlimm aussehen wie in der Sowjetunion, aber vergessen Sie nicht: Am Anfang war es auch in der Sowjetunion nicht so schlimm!
Amsterdam: Viele im Westen scheinen das noch nicht zu begreifen. Immer wieder höre ich: ?Irgendetwas muss doch an der Anklage gegen Chodorkowski dran sein.? Und selbst der deutsche Ex-Bundeskanzler sagte, Chodorkowski sei vielleicht nicht an dem schuld, was man ihm vorwarf, aber dann treffe ihn eben eine andere Schuld. Was ist das für ein Rechtsstaat, in dem Menschen nach solchen Prinzipien ins Gefängnis kommen!

Was unternehmen Sie jetzt für Ihren Mandanten?
Moskalenko: In Russland nehmen wir an den gerichtlichen Prozessen und an den Ermittlungen der Justiz teil. Außerdem haben wir zwei Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben. Die eine beruft sich auf das Recht unseres Mandanten auf einen fairen Prozess, die andere darauf, dass Chodorkowski aus politischen Gründen und nicht aus rechtlichen Gründen im Gefängnis sitzt.
Amsterdam: Wenn der Fall Chodorkowski nicht zu einem besonderen Anliegen ausländischer Regierungen und Institutionen wird, kann das die herrschende Elite Russlands nur ermutigen, dass ihre Verstöße gegen Gerechtigkeit und Menschenrechte ohne Folgen bleiben. Das hat die bisherige Taktik des Auslands ? ?business as usual? ? gelehrt.

Wann haben Sie Chodorkowski zuletzt gesehen?
Schmidt: Vor zehn Tagen.

Wie kommunizieren Sie mit ihm?
Schmidt: Per E-Mail, aber darüber können wir nicht sprechen. Denn offiziell darf Chodorkowski nur vier Mal im Jahr telefonieren. Wir reden mit ihm zu Besuchszeiten. Dabei wissen wir aber genau: Wenn wir mit ihm reden, dann hören Dutzende von Ohren mit. Manchmal schreiben wir etwas mit dem Bleistift auf Papier ? zum Beispiel, welche Zeugen wir vorladen sollten ? und radieren es in der Besuchszelle wieder aus, dann schreiben wir etwas Neues und so weiter. Alles wird überwacht. Die ganze Stadt Tschita bevölkern schwer bewaffnete Wachmänner ? als ob es sich um einen hochgefährlichen Terroristen handele.

Kann Chodorkowski Sie noch bezahlen?
Moskalenko: Ja. Juri und ich sind Idealisten und lösen viele Fälle umsonst. Die haben es nicht geschafft, Chodorkowski alles zu nehmen. Sicher hat die Staatsanwaltschaft ihn auch deshalb nach Tschita verlegt, weil damit immer 1000 Euro pro Flug von seinem Vermögen abgehen.
Schmidt: Mit Robert Amsterdam ist das etwas anderes, der lebt schließlich im wilden Kapitalismus!

Was sind Chodorkowskis Pläne?
Moskalenko: Natürlich weiß er nicht, wann er aus dem Gefängnis kommen wird. Aber er geht davon aus, dass er in Zukunft eine aktive Rolle im öffentlichen Leben spielen wird, nicht unbedingt im politischen Leben.

Das heißt, er ist in guter Verfassung?
Moskalenko: Ja, dieser Mann hat eine enorme innere Haltung. Die haben ihn in einem Käfig vor Gericht gebracht, in einem Käfig, der voller Exkremente war. Er hatte kaum zu essen am Tag des Prozesses, er wurde jeder Menge Schwachsinns beschuldigt, obendrein hundertfach fotografiert, und am Ende dieses Tages hat dieser Mann immer noch gelächelt. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber es ist wirklich so: Dieser Mann ist ein Asket. Der braucht wenig zum Leben.
Schmidt: Chodorkowski zeigt eine Selbstdisziplin in diesem Gefängnis, das ist selten ? ich weiß, wovon ich rede.

Was gibt ihm Kraft?
Moskalenko: Keine Ahnung. Das ist das Merkwürdige: Sie finden keinen Menschen, der mehr verletzt ist als er, aber sie finden auch keinen Menschen, der patriotischer ist als er. Er hätte sein Land verlassen können, bevor er angeklagt wurde, aber er hat es nicht getan. Jetzt sitzt er da hinter den Gitterstäben und denkt: Was kann ich für mein Russ­land tun. Er ist wirklich ein besonderer Mann. Darum arbeite ich für ihn.