Cicero: “Russland begeht Selbstmord”

December 22, 2005

Putins Rivale, der Ölmagnat und Multi-Milliardär Michail Chodorkowski, ist wegen Steuerhinterziehung zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Ein Interview aus der Zelle.

Sie wünschen sich eine demokratische Entwicklung in Russland. Demokratie verlangt jedoch eine wahrhaftige Zivilgesellschaft. Gibt es Ihres Erachtens diese Zivilgesellschaft in Ihrem Lande? Sind Ihre Mitbürger bereit, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren?
Natürlich sind sie dazu bereit! Die Vorstellung, dass Russland in politischer Hinsicht unfähig ist, gefällt mir ganz und gar nicht. Ich möchte daran erinnern, dass niemand anderes als die russischen Bürger das Land zu Beginn des 17.Jahrhunderts, als es im Begriff war unterzugehen, gerettet haben. Und man sollte auch die Ereignisse im August 1991 nicht vergessen. Man kann über das darauf folgende geopolitische Erdbeben – den Zusammenbruch der UdSSR – geteilter Meinung sein, aber man muss sich sehr wohl eingestehen, dass das staatsbürgerliche Aufbegehren der Russen den Putsch der Konservativen hat scheitern lassen.

Die Zivilgesellschaft ist im Entstehungsprozess begriffen. Und sie entwickelt sich wesentlich schneller, als sich der Kreml das wünscht. Meinem Empfinden nach entsteht eine Zivilgesellschaft dann, wenn die Bürger ihren Standpunkt in der ersten Person vertreten, wenn sie es sich erlauben, Dinge zu sagen wie „Ich denke“, „Ich weiß“ und „Ich verpflichte mich, zu handeln“. Und genau das kann man im Moment beobachten.

Kann der Aufbau dieser Zivilgesellschaft in Ihren Augen noch in Frage gestellt werden?
Leider ja. Sollte es in den kommenden Jahren nicht gelingen, eine ernst zu nehmende Infrastruktur zu schaffen, welche diese Zivilgesellschaft funktionstüchtig macht, dann laufen wir Gefahr, die nächste Generation zu verlieren. Die klügsten Köpfe werden Russland aus gutem Grund verlassen: Intelligente, talentierte und ehrgeizige Menschen werden sich weigern, in einem Land zu leben, das – wie derzeit – der bürokratischen Willkür unterworfen ist.

Die Regierung denkt heute nur an eines, nämlich wie sie sich weiterhin auf Kosten dieses ertragreichen Landes bereichern kann, ohne jemals für irgendetwas geradestehen zu müssen. Man muss das richtig verstehen: Das System unter Putin schließt per se jedweden gesellschaftlichen Aufstieg aus. Dieses System will folgsame Befehlsempfänger und keine kreativen Köpfe. Und deswegen wird Russland unter einem solchen Regime auch keine realen Fortschritte erzielen. Der Kreml gibt sich damit zufrieden, zentrifugalen Tendenzen, die einen raschen Zerfall der Föderation zur Folge haben könnten, einen Riegel vorzuschieben und begrenzt dabei so umfassend wie möglich die staatsbürgerlichen Aktivitäten der Menschen. In Wirklichkeit befasst sich die herrschende Elite kaum mit der mittel- oder längerfristigen Zukunft Russlands.

Was müsste passieren, damit Russland diesen von Ihnen erwähnten „realen Fortschritt“ erfährt?
Ohne eine Veränderung des heutigen russischen Staatsmodells wird kein bedeutender Fortschritt möglich sein. Vom Militär über die Eisenbahn und den Feiertagskalender bis hin zum Strafrecht hängt heute alles von den Vorlieben, Gemütszuständen, Komplexen und Launen eines einzigen Mannes ab. Man muss nur schauen, wer die Schlüsselpositionen der Macht innehat, um festzustellen, dass es sich dabei ausschließlich um Menschen aus Putins unmittelbarer Umgebung handelt. Diese Menschen vollstrecken die Entscheidungen des Kreml ohne jegliche Skrupel.

Welches System befürworten Sie?
Wir brauchen eine parlamentarisch-präsidiale Republik. In einem solchen Staatsmodell ist der Präsident Garant für die Einheit des Landes, er leitet die hoheitlichen Strukturen und bestimmt die Leitlinien der Außenpolitik. Die sozialen und wirtschaftlichen Fragen müssen jedoch in den Zuständigkeitsbereich der Regierung fallen, welche nur von der parlamentarischen Mehrheit gestellt werden kann, das heißt von den Parteien, die aus den Parlamentswahlen als Sieger hervorgegangen sind.

Darüber hinaus bedarf es der Rückkehr zu einem echten Föderalismus. Ich denke, es ist wichtig, den lokalen Behörden mehr Kompetenzen einzuräumen. Und dies erreicht man am besten, indem Regionalpolitiker wieder in allgemeinen Wahlen gewählt werden. Nur ein wahrhaft „Heimatverbundener“ wird sich wirksam um die langfristige Entwicklung seiner Region kümmern. Ein aus Moskau für einige Jahre entsandter Bürokrat hingegen wird im Allgemeinen nichts anderes anstreben, als in die eigene Tasche zu wirtschaften.

Apropos, was halten Sie von den russischen Oppositionsparteien?
An der Spitze der wichtigsten Oppositionsparteien stehen keine Politiker, sondern Individuen, die ich als „Geschäftsmänner der Politik“ bezeichnen würde. Diese vermeintlichen Oppositionspolitiker sind nichts anderes als Produkte des Systems. Sie haben in Wirklichkeit keinerlei Ambitionen, die Macht zu ergreifen. Wenn sie vorgeben, eine Alternative zu Putin zu verkörpern, dann geschieht dies nur in der Absicht, im entscheidenden Moment jegliche politische Forderung im Austausch gegen einen beliebigen Gefallen des Kremls aufzugeben. Leider muss ich feststellen, dass die so genannten „Oppositionsparteien“ genau diesem – von Wladimir Schirinowski, dem Chef der Liberaldemokratischen Partei Russlands, ins Leben gerufenen – Schema folgen.

Wenn ich von der Modernisierung der Eliten spreche, geht es mir deswegen vor allem um die Modernisierung der Oppositionsgruppen und darum, an ihrer Spitze Politiker zu sehen, die von der Machtmaschinerie völlig unabhängig sind.

Wenn man nicht ohne einen Mercedes, einen besonderen Passierschein, eine Dienstdatscha und weitere von der Präsidialverwaltung so großzügig an sogenannte Feinde verteilte Pfründe leben kann, dann sollte man auch nicht behaupten, eine echte Opposition zu verkörpern. Solche Menschen wären nicht bereit, bis ans Ende zu gehen und sich in die offene Konfrontation mit den Behörden zu begeben.

Sie äußern sich sehr kritisch über die Oppositionsparteien. Gibt es in deren Reihen dennoch einige, die Ihnen „seriöser“ als die anderen erscheinen?
Das größte Potenzial in der Opposition befindet sich meines Erachtens heute im linken Spektrum unserer politischen Landschaft. Dort entwickeln sich politische Formationen wie die Kommunistische Partei oder „Rodina“ (Heimat). Das rechte Spektrum hingegen ist zersplittert. Den traditionell eher dem „rechten Lager“ zugeordneten Parteien gelingt es nicht, ausreichend Anhänger zu finden, um es mit dem Kreml aufnehmen zu können. Ich habe von „links“ und „rechts“ gesprochen, möchte aber unterstreichen, dass diese Begriffe im russischen Kontext schwierig einzuordnen sind. Deswegen verwende ich übrigens, wenn ich von Parteien und Idealen spreche, lieber die Worte „sozial“, „patriotisch“ und „demokratisch“, welche im Gegensatz zu „habgierig“, „autoritär“ und „unverantwortlich“ stehen.

Besteht die Möglichkeit, dass die eben von Ihnen erwähnten Parteien eines Tages die Wahlen gewinnen?
Damit die Opposition Wahlen gewinnen kann, gibt es eine Bedingung sine qua non: Es muss sich dabei um freie Wahlen handeln. Nun waren aber in letzter Zeit die Wahlen in Russland nichts anderes als eine Farce ganz im Stil der sowjetischen „Volksdemokratie“.

Mir erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass die Regierung nach Putin aus einer Koalition bestehen wird. Was könnte verschiedenartige Kräfte dazu bewegen, sich in einer Koalition zu vereinen? Nun, der Widerstand gegen die derzeit regierende verantwortungslose, bürokratische Zunft, welche den Kreml und das gesamte politische Gefüge der Gesellschaft gelähmt hat. Diese Leute leben wie ein riesiger Parasit von den Bodenschätzen des Landes und scheren sich wenig um irgendeine Strategie oder gar einen nationalen Entwicklungsplan.

Woher nehmen Sie Ihre tiefe Überzeugung, dass die nächste russische Regierung unweigerlich auf die von Ihnen erwähnten „liberalen und linken“ Ideen gegründet sein wird?
Die Gesellschaft entwickelt sich weiter und selbstverständlich verteilt sich die Sympathie der Wähler abwechselnd auf unterschiedliche Parteien. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass sich im Moment die sozialdemokratischen Ideale durchsetzen.

Wie Sie wissen, hätte es schon 1996 zu dieser absolut notwendigen Wende kommen müssen, als es so aussah, als würde der Kandidat der Kommunistischen Partei die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Damals gelang es der Regierung von Boris Jelzin durch die Mobilisierung all ihrer Kräfte, an der Macht zu bleiben, was einen herben Rückschlag für den demokratischen Prozess des Landes bedeutete.

Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die aktuelle Wirtschaftspolitik des Kreml stärkt zwangsläufig linke Gefühle in der Bevölkerung. Wie ich schon sagte, diese Politik missachtet in größtem Maße die Interessen und Wünsche des russischen Volkes.

Was wirft das Volk der Regierung konkret vor?
Es gibt zahlreiche Gründe für diesen Unmut. Die Renten, das Gesundheitssystem, das Bildungswesen… In all diesen Bereichen tut die Regierung zu wenig für die Bevölkerung.

Niemand kann oder wird den Bürgern jemals erklären können, warum die Mindestrente unterhalb der Armutsgrenze liegt, obwohl ein beträchtlicher Haushaltüberschuss erzielt wurde, die Zentralbank über riesige Goldreserven und Devisen verfügt und Russland zudem noch im Besitz eines Stabilitätsfonds von mehreren Milliarden Dollar ist…

Vor diesem finanziellen Hintergrund – und angesichts der Tatsache, dass sich der Preis für ein Barrel Öl auf dem Höchststand befindet – kann keiner ernsthaft glauben, dass eine garantierte kostenlose medizinische Betreuung für die Bürger, die Sanierung der Krankenhäuser und kostenlose Medikamente für die Ärmsten eine Inflationsexplosion zur Folge hätten!

Ebenso ist es ein Rätsel, warum der Staat es nicht als Priorität ansieht, möglichst vielen Menschen Zugang zur Hochschulbildung zu ermöglichen. Und warum investiert der Staat nicht in die Verbesserung des Unterrichts an den weiter führenden Schulen? Warum stellt er den Bildungseinrichtungen kein modernes Material zur Verfügung?

Sie sprachen von den Erträgen aus dem Ölgeschäft. Die russische Wirtschaft stützt sich ja eben fast ausschließlich auf den Abbau von Bodenschätzen. Ist dies nicht riskant?
Das ist nicht nur „riskant“. Mittelfristig betrachtet ist das geradezu selbstmörderisch! Wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung in Russland weiterhin auf den Abbau von Rohstoffen und die Schwerindustrie stützt, wird Russland gegen die Wand fahren und niemals einen mit dem europäischen Durchschnitt vergleichbaren Lebensstandard erreichen. Auf diese Weise wird es Russland nicht einmal gelingen, die aktuelle Produktion zu verdoppeln. Letzteres wird übrigens von einigen Regierungsmitgliedern ehrlich zugegeben, auch wenn sich diese davor hüten, die wahren Gründe der Stagnation preiszugeben.

Was sind die Gründe hierfür?
Die Hauptursache besteht, wie bereits gesagt, in unserem Staatsmodell. Die „Vertikale der Macht“, die den Kreml mit so viel Stolz erfüllt, ist lediglich das Phantom einer echten, um das Gemeinwohl bemühten Verwaltung. Diese „Vertikale“ besteht aus verantwortungslosen und korrupten Funktionären. Man muss das richtig verstehen: Es handelt sich dabei um Einzelne, die sich nur auf eines verstehen, nämlich auf Kosten anderer zu leben. Wie bereits erwähnt, handelt es sich dabei um Parasiten, die sich hemmungslos bedienen und aus den Ressourcen schöpfen, die sie eigentlich im besten Interesse der Gemeinschaft verwalten müssten. Ihre Allgegenwärtigkeit blockiert jegliche Entwicklung und Mobilität; sie führt zu Unbeweglichkeit und Degeneration. Wenn wir uns dieser „Vertikalen der Macht“ nicht entledigen, bewegt sich das Land unweigerlich weiter auf den Niedergang zu.

Was hindert Russland daran, die post-industrielle Wirtschaft aufzubauen, die Sie sich so wünschen, nämlich eine auf Spitzentechnologie, technischen Innovationen und kleinen und mittleren Unternehmen basierende Wirtschaft?
Es ist ganz einfach: Die Regierung muss die tatsächlichen Interessen von Einzelpersonen, der Regierung und der Gesellschaft miteinander in Einklang bringen. Das Wort „tatsächlich“ ist hier besonders wichtig, denn man darf sich nicht mehr nur mit Grundsatzerklärungen zufrieden geben!
Darüber hinaus müssen diese Entscheidungen vor Ort überprüfbar sein; die Mehrheit muss sie als gerecht empfinden, gleichzeitig dürfen aber die Interessen der Minderheit nicht außer Acht gelassen werden.

Können Sie sich vorstellen, dass ein Bürokrat der berühmten, unserem Präsidenten so teuren „Vertikalen der Macht“ auf diese Weise arbeitet? Für mich ist das unvorstellbar. Angesichts eines so großen Landes wie dem unseren mit seiner komplexen Wirtschaft ist das gegenwärtige System völlig widersinnig.

Ist es auf das System als solches zurückzuführen, dass die russische Wirtschaft von ihren Besitzständen lebt?
Ganz genau. Wie verhält sich die „Vertikale“ denn? Ganz einfach: Wenn es auf lokaler Ebene etwas zu regeln gibt, versucht der Vertreter der Regierung erst einmal Nutzen daraus zu ziehen und sich persönlich zu bereichern. Sollte dies nicht möglich sein, entzieht er sich im weiteren Verlauf der Ereignisse jeglicher Verantwortung, verlagert die Lösung des Problems nach „oben“ und versteckt sich hinter den allgemeinen Anweisungen, die er erhält. Nun bergen Innovationen aber immer ein gewisses Risiko. Jede Innovation entsteht „gegen die Anweisungen“.

Was die kleinen und mittleren Unternehmen angeht, so können diese nicht darauf zählen, dass der Staat auf ihre Bedürfnisse eingehen wird und sei es nur, weil die Mühlen der Bürokratie langsamer mahlen als die Unternehmer.

Und natürlich ist es schlichtweg unvorstellbar, dass die „Vertikale“ den lokalen Behörden die Befugnis erteilt, echte Entscheidungen zu treffen. Diese Bürokraten sind das letzte Glied in einer langen Kette. Unbeaufsichtigt müssten diese Menschen Heilige sein, um all den sich ihnen bietenden Versuchungen zu widerstehen! Und behält die Regierung sie auch in Zukunft unter Kontrolle, werden sie weiterhin das Land ein wenig bestehlen und alle tatsächlichen Probleme an die zentrale Ebene weiterleiten…

Das ist das unabwendbare Paradoxon von Putins „Vertikaler“. In einem derartigen System gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder treibt den führenden Lokalpolitiker persönliche Habgier zu einer Entscheidung, oder er trifft überhaupt keine Entscheidung und das Problem, dessen Lösung er sich eigentlich annehmen sollte, verschwindet für immer im bürokratischen Dickicht. Ich wiederhole: Dieses Verwaltungsmodell regiert das heutige Russland.

Welche Vision haben Sie von der Moskauer Außenpolitik? Sollte Russland alles unternehmen, um den Status einer Weltmacht oder zumindest den einer Regionalmacht aufrechtzuerhalten?

Wir sollten uns vernünftig zeigen. Russland verfügt heutzutage nicht über die Möglichkeiten einer Weltmacht. Momentan gibt es nur ein Mitglied im Club der Supermächte: die Vereinigten Staaten. Früher oder später wird sich der Kreis erweitern und das expandierende China wird dazustoßen. Aber für Russland ist dort kein Platz mehr.

Allerdings kann Russland durchaus Regionalmacht sein und im gesamten post-sowjetischen Raum eine zentrale Rolle spielen. Warum sollte Russland nicht auch in politischer und intellektueller Hinsicht einer Gruppe von Ländern vorstehen, die sich weder in den amerikanischen noch in den chinesischen Block einordnen möchten? Ich kann mir Russland gut an der Spitze einer neuen Bewegung blockfreier Länder vorstellen.

Sollte sich diese neue Elite Ihrer Meinung nach klar gegen die Nato und die Europäische Union aussprechen? Oder sehen Sie Russland im Gegenteil dazu berufen, diesen Organisationen beizutreten?
Europa ist ganz offensichtlich im Hinblick auf Geschichte und Zivilisation ein Partner Russlands. Aus diesem Grunde dürfen wir auf keinen Fall gegen das alte Europa sein, das der slawophile Denker Alexei Khomiakov als „Land der heiligen Wunder“ bezeichnete. Dennoch ist es nicht wünschenswert, Illusionen über einen eventuellen Beitritt zur EU zu nähren. Dazu wird es nicht kommen. In seiner natürlichen historischen Eigenschaft als Land, welches das Kommunikationssystem zwischen Europa und Asien, das Heartland, kontrolliert, ist Russland genau am richtigen Platz.

In Bezug auf die Nato vertrete ich folgende Meinung: ja zu einer freundschaftlichen Partnerschaft, nein zur Zugehörigkeit Russlands zur Allianz. Ich bin übrigens ohnehin davon überzeugt, dass auch die Nato sich nicht wünscht, zu ihren Mitgliedern ein Land zu zählen, das mit China eine gemeinsame Grenze von mehreren tausend Kilometern hat. Des Weiteren kann es gelegentlich vorkommen, dass die geopolitischen Interessen Russlands und der Nato auseinander driften, auch wenn sich die beiden nie wieder frontal gegenüberstehen dürfen. Und schließlich steht es nicht zur Debatte, dass sich unser Land von seinem militärisch-industriellen Komplex, der immer noch integraler Bestandteil der Denkweise unserer Forscher und Ingenieure ist, verabschiedet.

Alle Überlegungen bezüglich des angemessenen geopolitischen Platzes Russlands ergeben jedoch nur unter der Bedingung einer wahrhaftigen und langfristig angelegten Entwicklung Sinn. Um stark zu sein, muss uns der wirtschaftliche Durchbruch gelingen. Und ich kann nicht oft genug sagen, dass es zu diesem Durchbruch nur kommen wird, wenn wir die „Rohstoffwirtschaft“ hinter uns lassen und zur „Wissenswirtschaft“ übergehen. Kurz, wenn wir eine post-industrielle Wirtschaft werden. Schließlich müssen wir eine ganze Reihe von wesentlichen Elementen des Staates, die erheblich beschädigt wurden, wieder stärken. Und wenn es nur die Armee ist. Bei uns gibt es heutzutage keine richtige Armee, sondern lediglich die Überreste der Armee eines anderen Staates, der UdSSR. Praktisch kampfunfähige Überreste übrigens. Nun sollte aber jedes Land, das etwas auf sich hält, über einsatzbereite Streitkräfte verfügen. In den EU-Mitgliedsstaaten ist dies doch auch der Fall?

Sind Sie der Meinung, die westlichen Staaten müssten Präsident Putin gegenüber bestimmter auftreten?
Die führenden Politiker der westlichen Länder müssen sich Putin gegenüber so verhalten, wie es den Interessen der Staaten entspricht, für die sie die Verantwortung tragen. Russland muss seine Probleme selbst regeln, indem es das kreative Potenzial seines Volkes mobilisiert und nicht, indem es andere Länder darum bittet, Geldgeber, Kindermädchen oder Lehrmeister zu spielen.

Was werden Sie nach Ihrer Entlassung aus dem Gefängnis tun? Käme für Sie erneut eine Karriere in der Wirtschaft in Frage? Denken Sie daran, in die Politik zu gehen? Oder haben Sie ganz andere Pläne? Und haben Sie die Absicht, Russland zu verlassen?
Ich werde nicht wieder in die Wirtschaft gehen. Und ich werde nicht aus Russland fortgehen.

Indem die Regierung mich ins Gefängnis schickte und mir alles nahm, was ich besaß, hat sie mich dazu gezwungen, ein Vollzeit-Akteur des gesellschaftlichen und politischen Lebens des Landes zu werden. Ich beabsichtige mein Leben der Aufgabe zu widmen, Russland zu einem würdigen Platz in der Welt zu verhelfen. Ich habe bereits mehrere wohltätige und soziale Projekte angekündigt. Damit werde ich mich befassen, wenn ich wieder in Freiheit bin.

Übersetzung Gwenola Walka

Via Zettelverkehr in die Gefängniszelle führte Grégory Rayko das Inerview für die Zeitschrift Politique Internationale, den exklusiven Kooperationspartner von Cicero in Frankreich.

Source: Cicero