Der Spiegel: Michails Manifest

May 23, 2011

Von Follath, Erich

Seit 2003 befindet sich der Unternehmer Michail Chodorkowski in russischer Haft. Zu Unrecht. Nun werden seine Texte aus dem Gefängnis veröffentlicht – auch sein Schlussplädoyer vor Gericht, das längst ein politischer Klassiker ist. Von Erich Follath

Ich bin keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen. Wie jedem wird es mir schwer, im Gefängnis zu leben, und ich will nicht darin sterben. Aber wenn es sein muss, werde ich nicht schwanken. Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert.

Michail Chodorkowski am 2. November 2010 vor einem Moskauer Gericht

Ein fast mitleidiges Lächeln auf den Lippen, die Stimme leise und fest, fordernd und verzeihend zugleich, die Haltung betont aufrecht, als wolle da jemand mit jeder Bewegung beweisen: Mich bricht niemand. Michail Borissowitsch Chodorkowski ist kein brillanter Romancier, kein mitreißender Revolutionär, kein Rhetoriker von Gnaden. Und doch erinnert das Schlusswort, das er während dieses kalten Novembertags 2010 im Gitterkäfig des Moskauer Gerichtssaals hält, an zwei andere berühmte historische Reden, die alle politisch interessierten Menschen bis heute aufwühlen. An Plädoyers, die nicht nur die Justiz eines Landes durcheinandergewirbelt haben, sondern ein ganzes Stück auch die Geschichte der Welt.

Emile Zola hat einst seine Wut herausgeschleudert, in Worten, die wie Blitze einschlugen, in einer einzigen Anklage. “J’accuse!” nennt der französische Schriftsteller seinen auf Seite eins der Zeitung “L’Aurore” am 13. Januar 1898 veröffentlichten Brandbrief an Félix Faure, den Präsidenten der Republik. Er plädiert nicht in eigener Sache; Zola ergreift für den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus Partei, der offensichtlich unter einem Vorwand als Landesverräter verhaftet wurde. Er prangert den herrschenden Antisemitismus an und beklagt die Willkür des Rechtssystems und deren Deckung durch die Politik: “Ich werde die Wahrheit sagen, denn ich habe versprochen, sie zu sagen. Es ist meine Pflicht zu sprechen, ich will nicht Komplize sein. Meine Nächte würden gestört sein von dem Geist des Unschuldigen, der dort unten unter den furchtbarsten Qualen für ein Verbrechen büßt, das er nicht begangen hat. Für Sie, Herr Präsident, schreie ich diese Wahrheit in die Welt – mit der ganzen Gewalt der Empörung eines ehrlichen Mannes. Im Interesse Ihrer Ehre bin ich überzeugt, dass Sie nichts davon wissen. Vor wem soll ich den Haufen schuldiger Übeltäter anklagen, wenn nicht vor Ihnen, der ersten Autorität des Landes?”

Der Brief verursacht einen ungeahnten politischen Sturm, der Frankreich tief spaltet; die Staatsmacht zeigt sich beein- druckt. Erst reduziert man das Strafmaß von Dreyfus; dann wird er begnadigt, 1906 schließlich rehabilitiert. Zola, der berühmte Autor von “Der Totschläger” und “Der Zusammenbruch”, erlebt das nicht mehr. Er stirbt vier Jahre zuvor an einer Rauchvergiftung. Vielleicht ist es ein Unfall, vielleicht ein Mord – man weiß es bis heute nicht.

Ein halbes Jahrhundert später, am 16. Oktober 1953, steht Fidel Castro vor Gericht und hält seine Brandrede. Der Revolutionär und seine Männer haben eine der symbolischen Hochburgen der Batista-Diktatur, die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, überfallen; acht Angreifer starben bei dem selbstmörderischen Kommando, 61 weitere Rebellen wurden nach ihrer Gefangennahme gefoltert und umgebracht. Mehrere der Angreifer und der Anführer kamen mit dem Leben davon, wurden aber gefasst und eingekerkert. “Es ist zu einem Rollentausch gekommen im Laufe der Verhandlungen”, ruft Castro, der sich selbst verteidigt, vor Gericht triumphierend aus. “Die Ankläger wurden zu Angeklagten und die Angeklagten zu Klägern … Es ist nicht entscheidend, dass hier einige mutige und aufrechte junge Leute verurteilt worden sind; entscheidend ist, dass das Volk ohnehin schon morgen den Diktator und seine grausamen Schergen verurteilen wird. Kuba sollte ein Bollwerk der Freiheit und nicht ein schändliches Kettenglied des Despotismus sein! Was mich selbst betrifft, so weiß ich, dass der Kerker hart sein wird. Aber ich fürchte ihn nicht, wie ich den Zorn des elenden Tyrannen nicht fürchte. Verurteilt mich, das hat nichts zu bedeuten. Die Geschichte wird mich freisprechen!”

Castro wird zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, im Rahmen einer Generalamnestie kommt er schon nach zwei Jahren frei und geht ins Exil und später in den Untergrund. Am 1. Januar 1959 flieht Diktator Fulgencio Batista, die Guerilleros haben gesiegt. Aber: “La historia me absolverá”? Die Geschichte aber wird ihn kaum freisprechen, denn bald schon nach dem Sturz des Diktators begann Castros Wandlung zum Autokraten.

Nun also Michail Borissowitsch Chodorkowski. Der Ruhige. Der Nachdenkliche. Der sich die Brille putzt, bevor er spricht, und so buddhistisch gelassen wirkt, als wäre er ein jüngerer Bruder des Dalai Lama. Der fast schüchtern zu seinen Verwandten und Freunden hinüberwinkt, die wie an jedem Verhandlungstag in den kleinen, gerade einmal vier Dutzend Zuhörer fassenden Saal gekommen sind. Der Mann, der nicht so geschliffen formulieren kann wie Zola bei seiner Anklage und nicht so brachial argumentieren wie Castro bei seiner Abrechnung. Der eher appelliert als anklagt und immer höflich bleibt gegenüber dem “verehrten Gericht”.

Zum Zeitpunkt seines ersten Prozesses im Jahr 2005, als er wegen Betrugs, Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt wurde, galt er bei vielen als einer dieser gangsterhaften Oligarchen mit einem Leben voller Wendungen: vom gläubigen Kommunisten zum begeisterten Jungunternehmer; vom reichsten Mann Russlands zum Strafgefangenen Nummer eins.

Er hatte 1988 eine der ersten Privatbanken Russlands gegründet, Boris Jelzin während des Putsches der Altkommunisten 1991 verteidigt, 1995 schließlich zu einem Spottpreis und mit ein paar Tricks den hochverschuldeten Erdölkonzern Jukos erworben und ihn zu einer Vorzeigefirma aufgebaut. Und wohl wesentlich deshalb, weil er anders als die anderen Oligarchen politische Ambitionen zeigte und Putin mitverantwortlich machte für die Korruption im Land, wurde er 2003 verhaftet.

Sieben Jahre lang saß er im Gefängnis, größtenteils im sibirischen Tschita. Er überstand Messerattacken von Mithäftlingen und Hungerstreiks. Im Oktober 2011 spätestens hätte man ihn freilassen müssen. Stattdessen wurde ein zweites Gerichtsverfahren gegen ihn angestrengt, diesmal wegen Diebstahls und Geldwäsche. Es sieht, damals im November, nicht gut aus für seine Freiheit und eine Rückkehr in ein “normales” Leben.

Und doch hält der Angeklagte Chodorkowski am 2. November in Moskau eine Rede, die wie jene von Zola und Castro historisch werden könnte. Das Plädoyer steht am Beginn eines Buchs, das am Donnerstag von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorgestellt wird. Es heißt “Briefe aus dem Gefängnis” und enthält Briefwechsel mit russischen Schriftstellern und Essays aus der Haft(*). Das Buch und vor allem das Plädoyer sind ein politisches Manifest.

In seinem Auftritt vor Gericht gibt Chodorkowski sich mit seinem juristischen Fall erst gar nicht mehr ab: “Alle, die etwas davon verstehen wollten, haben längst alles verstanden. Keiner erwartet ernstlich ein Schuldeingeständnis von mir.” Stattdessen macht er in ebenso schlichten wie scharfen Worten klar, worum es wirklich geht: um die Hoffnung, Russland trotz aller Widerstände der Regierenden den Übergang in eine “entwickelte Zivilgesellschaft” zu ermöglichen und den “Menschenrechten”, die “grundsätzlich keine Geltung” hätten, Gewicht zu verschaffen. Der Sträfling sieht sich als “Patriot”. Er sagt: “Ich schäme mich. Ich schäme mich für mein Land.” Er gibt sich, trotz seiner leisen und wenig revolutionären Töne, sehr selbstbewusst. Er weiß um die Bedeutung der Causa Chodorkowski.

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Millionen Augen in unserem Land und auf der ganzen Welt verfolgen den Ausgang des Prozesses. Sie verfolgen ihn in der Hoffnung, dass Russland doch noch zu

einem Land der Freiheit und des Gesetzes wird, in dem das Recht höher steht als ein Beamter. In dem die Sicherheitsdienste Volk und Gesetz schützen, nicht die Bürokratie vor Volk und Gesetz. In dem die Menschenrechte nicht mehr von der Laune des Zaren abhängig sind. Sei es nun ein guter oder ein böser. In dem im Gegenteil die Regierung wirklich von den Bürgern und das Gericht nur von Recht und Gott abhängig sein werden. Wenn Sie wollen, nennen Sie das Gewissen. Ich glaube, dass das kommen wird.

Er endet mit einem dramatischen Appell an den Richter Wiktor Danilkin: Euer Ehren! In Ihren Händen liegt sehr viel mehr als nur zwei Schicksale. Hier und jetzt wird über das Schicksal eines jeden Bürgers unseres Landes entschieden. Über das Schicksal derjenigen, die darauf zählen, nicht ein Opfer der Gesetzlosigkeit der Miliz zu werden, derjenigen, die ein eigenes Geschäft gegründet, ein Haus gebaut, Erfolg gehabt haben und möchten, dass dies ihren Kindern und nicht Plünderern in Uniform zugutekommt, und schließlich derjenigen, die ehrlich für ein gerechtes Gehalt ihre Pflicht tun wollen, ohne jede Minute befürchten zu müssen, unter einem beliebigen Vorwand von einer korrumpierten Obrigkeit entlassen zu werden.

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die uns weiter im Gefängnis sehen wollen. Für immer! Sie stehen über dem Gesetz, sie erreichen immer das, was sie vorhaben. Bisher haben sie das Gegenteil erreicht: Sie haben aus gewöhnlichen Menschen ein Symbol des Widerstands gegen die Willkür gemacht. Jetzt brauchen sie einen Schuldspruch, um nicht selbst zu “Sündenböcken” zu werden. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, dass das Gericht diesem Druck ehrenhaft standhält. Wir wissen alle, wie und über wen er ausgeübt wird. Euer Ehren, mir ist klar, Sie haben es außerordentlich schwer, vielleicht haben Sie sogar Angst. Ich wünsche Ihnen Mut.

Es ist unverkennbar, dass sich Chodorkowskis Worte über den Kopf des Justizbeamten hinweg an einen ganz anderen richten, von dem er annimmt, dass er sein Urteil schon gefällt hat: an den mächtigsten Mann im Land, an seinen großen Widersacher. An Ministerpräsident Wladimir Putin.

Die Anklage umfasst 3487 Seiten, das Urteil kommt mit vergleichsweise schlanken 689 Seiten aus. Die Verteidigung hat im Lauf des Prozesses Entlastungszeugen vorführen können, die alle Anklagepunkte ad absurdum führten. Der frühere Wirtschaftsminister German Gref und der Ex-Vizepremier Wiktor Christenko bestätigten übereinstimmend, sie hielten es für ausgeschlossen, dass Chodorkowski gemeinsam mit seinem Mitangeklagten Platon Lebedew 347,5 Millionen Tonnen Öl gestohlen haben könnte. Das wäre ihnen – damals in Regierungsverantwortung – mit Sicherheit aufgefallen.

Geradezu kafkaesk mutet das Verfahren an, die Vorwürfe sind nach Ansicht aller sachkundigen ausländischen Prozessbeobachter an den Haaren herbeigezogen, und auch Politiker von Angela Merkel bis Barack Obama schließen sich dieser Meinung an.

Am 27. Dezember 2010 verkündet der Richter den Schuldspruch, drei Tage später das Strafmaß. Es übertrifft in seiner Härte die Erwartungen der meisten Beobachter: 14 Jahre Freiheitsentzug. Unter Berücksichtigung der noch nicht abgebüßten Reststrafe bedeutet das für Chodorkowski weitere sechs Jahre Haft. Gefasst und mit einem Lächeln auf den Lippen akzeptiert Chodorkowski den Schuldspruch zum “Gulag light”, wie er den Strafvollzug im Putin-Reich nennt. Kommt es zu keiner Begnadigung, kann er erst 2017 seine Freiheit wiedererlangen.

Aber selbst dann wird Chodorkowski noch kein Greis sein, sondern gerade erst 54 – im besten Alter für eine Karriere in Politik oder Wirtschaft. Er hat in der Haft mit seinen Aufzeichnungen begonnen. Er reflektiert darin nicht nur seine eigene Vergangenheit, sondern schreibt auch auf, welchen politischen Weg seine Heimat gehen könnte; er diskutiert diese Gedanken in Briefwechseln mit einigen der interessantesten russischen Schriftsteller und Philosophen – und lässt dabei auch erkennen, dass er in einem veränderten Russland durchaus auch eine wichtige Rolle für sich selbst sieht.

Spätestens mit diesem zweiten Prozess scheint Chodorkowski sein negatives Oligarchen-Image weitgehend losgeworden zu sein. Zumindest auf den Straßen Moskaus und St. Petersburgs sprechen viele Menschen jetzt mit Hochachtung von ihm – und manche setzen in ihn ihre Zukunfts- hoffnungen. Und noch eines hat sich verändert: “Gewöhnliche” Russen beginnen gegenüber der Obrigkeit mehr Mut zu zeigen.

Zum Beispiel Natalja Wassiljewa, 43, ehemals Köchin und dann auf dem zweiten Bildungsweg zur Juristin geworden. Sie arbeitete zwei Jahre lang bei dem Moskauer Bezirksgericht, das den Prozess ausgerichtet hat. Sie wirkte als Pressesekretärin und bekam in dieser Funktion Entscheidendes mit, was sie auch bezeugen will: Richter Danilkin habe das Urteil nicht selbst formuliert, sondern höheren Ortes vorformuliert bekommen. Sie achte ihren Chef hoch, der Gerichtsvorsitzende sei kompetent und anständig, sagte die Frau im Online-Sender “Doschd”. Aber er habe unter so starkem politischem Druck gestanden, dass er sich nicht mehr habe wehren können und aufgrund der Belastung sogar Herzprobleme bekommen habe. “Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich das alles erzählen soll. Aber dann konnte ich es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren zu schweigen.”

Frau Wassiljewas Name ist von der Informationsseite des Gerichts inzwischen verschwunden. Im Internet sieht sie sich einer Verleumdungskampagne ausgesetzt. Ende März reichte sie ihre Kündigung ein. Sie hat jetzt keinen Job, aber aus der ehemaligen Köchin ist eine neue Heldin der Bürgerrechtsbewegung geworden.

Chodorkowski dürfte es besonders freuen, dass in Russland ein “ganz gewöhnlicher Mensch” einen anderen “ganz gewöhnlichen Menschen” dazu gebracht hat, Zivilcourage zu zeigen. Und wer weiß, vielleicht ist das Virus ja ansteckend.

(*) Michail Chodorkowski: “Briefe aus dem Gefängnis”. Knaus Verlag, München; 288 Seiten; 19,99 Euro. Der hier gedruckte Text basiert auf einem Essay, den der SPIEGEL-Redakteur Erich Follath für dieses Buch geschrieben hat.

Source: Der Spiegel