Die Welt: Michail Chodorkowski: Sibirien im vierten Jahr

November 2, 2007

Seit 2003 sitzt der Milliardär in einem von der Welt verlassenen Gefängnis. Er hatte gewagt, sich Putins Allmachtgelüsten in den Weg zu stellen: Ein Unternehmer als große Oppositionsfigur Von André Glucksmann

Danke, Jelena Bonner-Sacharow. Danke Anna Politkowskaja. Diese beiden bemerkenswerten Frauen haben mir die Augen geöffnet: Michail Chodorkowski, der ehemals allmächtige Chef des größten russischen Ölkonzerns Yukos, ist nicht mehr der allseits beneidete, erfolgreiche Geschäftsmann, er ist ein politischer Gefangener, weggeschlossen seit vier Jahren im hintersten Winkel Sibiriens, verurteilt und wieder verurteilt (bis zum bitteren Ende?).

In Frankreich gibt es traditionellerweise wenig Zuneigung zwischen der Feder und dem Geld. Warum also einen Industriekapitän verteidigen, der von seinesgleichen allzu schnell aufgegeben wurde? Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch?

Von wegen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR haben die Weltbank und der amerikanische Präsident Bill Clinton die Privatisierungen begrüßt, die Boris Jelzin im Namen einer endlich errungenen Freiheit in Russland propagierte. In Wirklichkeit erlaubte das Ende des sowjetischen Zeitalters es einigen wenigen Tricksern, sich zu bereichern – nicht so sehr auf dem Rücken von Arbeitern, die von der “Diktatur des Proletariats” völlig ausgezehrt waren, sondern vor allem auf Kosten von kommunistischen Apparatschiks, die vom Gang der Ereignisse zu überrascht waren, um sich ihren Teil des Kuchens zu sichern.

Versuchen wir zu verstehen: Nach putinscher Lesart gibt es auf der einen Seite die Korrupten, die Geschäftemacher, die “Oligarchen” und auf der anderen Seite die weißen Ritter der Regierung, die gegen ebendiese Dunkelmänner vorgehen. Diese selbst erklärten Retter des Vaterlandes gefallen sich in der Attitüde desjenigen, der dem Volk Reichtümer zurückgibt, die es nie besessen hat. Aber Putin ist weder Robespierre noch Eliot Ness, der “Unbestechliche”, er hat nichts von einem selbstlosen Kämpfer für das Wohl aller, der den Augiasstall Russland ausmistet. Im Bürgermeisteramt von Sankt Petersburg hatte er sich eine sehr lukrative Position gesichert, deren Einträglichkeit nur noch von seiner späteren im Kreml übertroffen werden sollte. Auf diese Weise scheint Putin unvorstellbar reich geworden zu sein. Sein Vermögen mag sich auf mehrere Milliarden Euro belaufen, munkelt man in Moskau. Er war es, der die groß angelegten Veruntreuungen der Familie Jelzin deckte. Im Gegenzug wurde er dazu auserkoren, Russland zu regieren.

Die russische Wirtschaft ähnelt zum Verwechseln dem Chicago der 30er-Jahre, als Al Capone und die Seinen wüteten. Ein Valentinsmassaker nach dem anderen: Erpressungen, Schmiergelder, Morde, willkürliche Verhaftungen, die verschiedenen Geheimdienstklans machen sich ohne Rücksicht auf Verluste die Beute streitig. Um es klar zu sagen: Russlands Mächtigen geht es nicht darum, die “Oligarchen” zu entmachten, sie wollen die guten von den schlechten Oligarchen scheiden: Denen, die gehorchen, geschieht nichts. Doch jene, die aufmucken, werden bestraft, ihr Besitz wird eingezogen und an die Kumpane der Tscheka oder des FSB (also des Geheimdiensts) neu verteilt. Das missfällt unseren Souveränitätspredigern und Globalisierungsgegnern, denn dieser Auswahlprozess passt weder in ihr antiliberales und egalitäres Weltbild, noch fügt er sich in ihren Kampf gegen das Kapital ein. Doch niemand, der Augen im Kopf hat, kann sich darüber täuschen: Das Russland von heute ist ein Land der Korruption, und das, obwohl oder weil 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Unbequeme Stimmen werden zum Schweigen gebracht, die Lebenserwartung sinkt, und die Macht unternimmt dagegen nichts. Michail Chodorkowski bot seinen zahllosen Angestellten die besten Arbeitsbedingungen in Russland. Gut bekommen ist es ihm nicht.

Auf drei Gebieten hat der große Boss die Machtstruktur herausgefordert: Erstens, indem er ihr in den Medien Konkurrenz machte: Humanitäre Aktivitäten und seine Stiftung “Offenes Russland” verschafften ihm Popularität. Zweitens, indem er sich ihrer Politik in den Weg stellte: Die Kreml-Partei “Einheitliches Russland” duldet keine mächtigen Gegner. Der unbequeme Oligarch unterstützte liberale und demokratische Parteien. Drittens, und das war seine größte Verfehlung, indem er wirtschaftlich ihre Kreise störte. Er behinderte die “Restrukturierung” der Ökonomie nach dem Gutdünken des Kremls, der die entscheidenden Sektoren gern in Gestalt von Monopolen kontrolliert sehen will. Die bedeutendsten Beispiele sind Gazprom beim Erdgas und Rosneft (vielleicht selbst bald ein Teil Gazproms) beim Öl. Der gleiche staatlich gelenkte Konzentrationsprozess findet sich bei den Unternehmen der Luft- und Raumfahrt, der Produktion von Nickel und Industriemetallen. Diese Rücküberführung in staatliche Hand kommt der “Putin AG” zugute, die allein im Land die Entscheidungen trifft, politisch, militärisch und ökonomisch.

Ein anderes, nicht minder wichtiges Spielfeld, ist das der “großen” Außenpolitik. Als sich im Jahr 2005 die Ukraine aus ihrer Bevormundung befreit, sendet ihr Russland eine klare und unmissverständliche Botschaft: Es vervielfacht den Preis für Öl und Gas und demonstriert schließlich seine Allmacht, indem es zum Neujahrsfest die Hähne ganz zudreht. Das Gleiche erfährt das Georgien der Rosenrevolution, das ebenfalls unter wiederkehrenden russischen Launen und Embargos zu leiden hat. Als sich Polen und die baltischen Staaten – immerhin Mitgliedsländer der Europäischen Union – als widerspenstig erweisen, schließen Bundeskanzler Schröder und Putin den Vertrag über die deutsch-russische Ostsee-Gaspipeline. Damit wird die renitente Ukraine umgangen, werden die Polen und die Balten für ihre Unabhängigkeit bestraft. Die Staaten Osteuropas, die ehemals dem Warschauer Pakt angehörten, hängen zu 90 Prozent von russischen Energielieferungen ab. Es ist leicht, sie zittern zu lassen. Ist es Ambition des Kreml, die Abhängigkeitsverhältnisse frühere Tage umzukehren? Während des Zweiten Weltkriegs gewährten die Vereinigten Staaten Russland wichtige finanzielle und materielle Hilfe. Heute geht es darum, von Murmansk aus Erdgas nach Amerika zu exportieren. Russland hat die Mittel, den Westen zu erpressen.

Diese “große” Politik machte die Zerschlagung von Yukos erforderlich. Dieses Unternehmen tanzte aus der Reihe, und sein Chef weigerte sich zu gehorchen. Yukos war ein innen- wie außenpolitisches Hindernis und wurde folglich aus dem Weg geschafft. Dazu willens und in der Lage, den russischen Behörden dank der Marktmacht seines Konzerns Schwierigkeiten zu bereiten, stemmte sich Chodorkowski gegen die staatliche Vereinnahmung sämtlicher Öl- und Gasreserven und beraubte Putin seiner wichtigsten Waffe gegen den Westen.

Das Schicksal Michail Chodorkowskis ist den widerspenstigen Bossen ein mahnendes Beispiel, wie Tschetschenien für das russische Volk zum Popanz aufgebauscht worden ist. Das dem Erdboden gleichgemachte Grosny hat auf alle Bürger der Russischen Föderation eine pädagogische Wirkung: “Das blüht allen Völkern, die sich für die Freiheit entflammen!” Der eingekerkerte Chodorkowski ist auch eine unmissverständliche Aufforderung an die Eliten des Landes: “Unterwerft euch!” Der Mord an der unbequemen Anna Politkowskaja ist eine unverhüllte Warnung an alle neugierigen Journalisten. Der Polonium-Tod Alexander Litwinenkos soll alle Ex-KGBler abschrecken, die es an der rechten Treue zu ihrem früheren Dienstherrn mangeln lassen. Und die endlosen Qualen, die der geheimdienstkritische Anwalt Michail Trepaschkin im Kerker erleiden muss, sind eine Mahnung für alle seine Berufskollegen. Alle diese Botschaften haben die gleiche Quelle.

Gefährdet, wie er war, ist Michail Chodorkowski nicht ins Ausland geflohen. Er hat es vorgezogen, sich in seiner Heimat zu verteidigen. Man unterschätzt die Bedeutung, die seine Person in Russland annehmen könnte. Wer das verstehen will, sollte an Andrej Sacharow denken. Ich entsinne mich einer Bemerkung, die seine Witwe und meine gute Freundin Jelena Bonner gemacht hat. Sie bezog sich auf ein Treffen im Kreml, wo Putin die mächtigsten Oligarchen versammelt hatte: “Als Chodorkowski erschien, dachte ich mir: Der ist zu intelligent, zu gelassen, zu mutig, zu ahnungslos. Er wird bezahlen.”

Chodorkowski ist sicherlich kein Unschuldslamm. Aber auch Sacharow war das nicht. Er machte als Physiker die sowjetische Wasserstoffbombe möglich. Doch als er sich der Unterdrückung und der Knechtschaft um ihn herum bewusst wurde, begann er, Dissidenten zu decken, und stellte sich der roten Diktatur entgegen. Chodorkowski, der Boss unter Bossen, stieß sich an der Rückkehr der Autokratie. Viele Russen, und Anna Politkowskaja insbesondere, haben mir gesagt: Er war reich, deshalb misstrauten ihm die kleinen Leute, aber in Russland ist das so: “Wenn du ins Zuchthaus gehst und dich nicht dem Willen der Mächtigen beugst, findet in den Augen der Öffentlichkeit eine Läuterung statt.” Von der Welt im Stich gelassen, erhebt sein Widerstand Michail Chodorkowski zur großen Oppositionsfigur neben Garri Kasparow und Wladimir Bukowski.

Source: Die Welt