FOCUS: Michails Waisenhaus
von FOCUS-Korrespondent Boris Reitschuster (Moskau)
Zum Imperium von Ex-Oligarch Chodorkowskij gehörte ein Internat – jetzt leitet es seine Mutter
Der Kreml hat ihr den Sohn weggenommen, und auch um ihre 180 anderen Kinder muss sie sich sorgen. „Ich lebe immer in Angst vor einer Schließung, jetzt in den Sommerferien war sie besonders groß“, sagt Marina Chodorkowskaja. Die 74-jährige Rentnerin ist die Mutter von Michail Chodorkowskij. Einst war er Russlands reichster Mann, bis er Wladimir Putin herausforderte und 2003 ins Gefängnis kam. Seiner Mutter vertraute der gestürzte Oligarch die Kinder an: Jungen und Mädchen ohne Eltern oder aus sozial schwachen Familien, die in einem Internat leben. Chodorkowskij hatte es 1993 in Korallowo, gut 50 Kilometer nordwestlich von Moskau, gegründet und finanziert es trotz Haft weiter.
Bis heute gehen Marina Chodorkowskaja die Szenen nicht aus dem Kopf. „Es war ein bisschen wie im Krieg“, erinnert sie sich: Als der Staat 2003 die Attacke auf Yukos, den Ölkonzern ihres Sohnes, startete, kamen plötzlich Männer in Kampfuniformen und mit Kalaschnikows in die Schule.
„Wir haben Kinder aus Kriegsgebieten, die noch unter Traumata leiden, die hatten hier endlich Ruhe gefunden. Als sie die Uniformen und die Waffen sahen, kam der alte Schrecken wieder hoch, ein Junge wurde depressiv“, berichtet Chodorkowskaja mit leiser Stimme. Die Schule mitsamt Grundstück wurde formell vom Gerichtsvollzieher beschlagnahmt, weil sie Yukos gehörte.
Auch wenn die Schikanen in den vergangenen Jahren nachgelassen haben, die Angst ist geblieben. Die Schützlinge zwischen elf und 18 Jahren leben in dem Internat mit Erziehern in einem halben Dutzend Neubauten. Ein Vorzeigeprojekt in einem Land, in dem Waisenhäuser oft üble Verwahranstalten sind.
„Mein Sohn hatte die Erzählungen seines Vaters im Kopf; der war Kriegswaise, sah seine Mutter kaum, weil sie immer arbeiten musste“, erzählt Chodorkowskaja. Michail habe anderen Kindern helfen wollen, die ein ähnliches Schicksal teilten. Vater Boris Chodorkowskij hat die Inhaftierung seines Sohnes körperlich sehr zugesetzt, der 75-Jährige zuckt ununterbrochen mit dem Kopf. „Das Internat ist ein Spiegel der Tragödien unseres Landes“, sagt er. „Wir haben hier 29 Kinder, von denen viele durch die Geiselnahmen in der Beslan-Schule und im Moskauer Dubrowka-Theater zu Waisen geworden sind. Jetzt warten wir auf Kinder aus Südossetien.“
300 Bewerbungen für die Schule gab es dieses Jahr, bei 50 freien Plätzen. „Mein Sohn wollte hier ein ganzes Städtchen mit solchen Internaten errichten, für 1000 Kinder“, erzählt Boris Chodorkowskij und zeigt auf das riesige Feld neben dem Schulgebäude, den Kopf immer in nervöser Bewegung. Die Pläne hätten bereits in der Schublade gelegen. Dann kam der Staat und zerschlug Yukos. Sohn Michail hatte den Konzern einst mit zwielichtigen Methoden privatisiert – wie die meisten russischen Superreichen. Doch Chodorkowskij machte Yukos zum Vorzeigeunternehmen mit sozialem Engagement bis hin zum Internat. Nachdem er Putin kritisiert und der Staatsfirma Rosneft, die Putins Vertrauter Igor Setschin kontrolliert, Korruption vorgeworfen hatte, wurde er nach einem von vielen Beobachtern als Schauprozess bezeichneten Verfahren im Jahr 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt – unter anderem wegen Steuerhinterziehung. Der Großteil seines Konzerns ging weit unter dem Marktwert an Rosneft, das Unternehmen des Putin-Mannes.
Im ersten Stock des Internats hängen Bilder aus einer anderen Ära an der Wand. Sie zeigen Chodorkowskij an der Seite von US-Präsident George W. Bush. Heute sitzt er 6152 Straßenkilometer entfernt in Tschita, unweit der chinesischen Grenze, obwohl ein Gesetz vorschreibt, dass Häftlinge ihre Strafe in ihrer Heimatregion verbüßen sollen. Er lebt in einer modrigen 2-Mann-Zelle, durch deren winziges Fenster kaum Licht fällt.
„Die Wärter verbieten ihm, zum Lesen näher ans Fenster zu gehen, er darf nur am Tisch sitzend mit dem Gesicht zum Guckloch lesen. Dabei sieht er ohnehin schon so schlecht“, klagt Marina Chodorkowskaja. „Sie stecken ihm schon mal Mithäftlinge mit Infektionskrankheiten in die Zelle, absichtlich. Er hat Flecken im Gesicht, weil er seit zwei Jahren die Sonne nicht gesehen hat. Zuletzt musste er wieder drei Tage in den Karzer, ein Kellerloch. Angeblich war der Deckel des Wassereimers in seiner Zelle nicht sauber, und beim Hofgang soll er die Hände nicht auf dem Rücken verschränkt gehalten haben.“ Ein Mithäftling des gestürzten Oligarchen erklärte nach seiner Freilassung, dass ihn die Gefängnisleitung erpresst hatte: „Wenn du nicht gegen Chodorkowskij aussagst, kommst du nicht vorzeitig frei.“
„Das Ganze ist ein Albtraum“, klagt die Mutter, sie spricht von Demütigungen und Erniedrigungen. Ihr Mann fällt ihr schließlich ins Wort: „Rede von etwas Anderem, du darfst dich nicht aufregen!“ „Wie soll ich mich nicht aufregen?“, schluchzt Marina zurück. „Als Medwedew Präsident wurde, hatte ich für kurze Zeit etwas Hoffnung. Umsonst. Alles ist geblieben, wie es war.“
Marina Chodorkowskaja hat in diesen Tagen nur einen Wunsch: „Als ich voriges Mal die sechseinhalb Stunden zu meinem Sohn flog, haben sie uns einfach statt der drei Stunden Besuchszeit, die uns zustehen, nur eine gegeben. Ich hoffe, nächsten Monat werden es drei sein.“ Drei Stunden werden sie in einem winzigen Zimmer sitzen, am Tisch mit einem Wärter. Der passt auf, dass sie sich nur über Priva-tes unterhalten und sich nicht berühren. Es ist Mutter und Sohn nicht gestattet, einander die Hände zu reichen.
Hinter Gittern