FOCUS: “Seine Enkelin hat er noch nie gesehen”
Pawel Chodorkowskij erzählt, warum sein inhaftierter Vater Michail trotzdem noch lächeln kann
Wenn mein Vater am Sonntag Geburtstag hat, wird er nicht feiern können. Nicht einmal ein bisschen. Weil die Behörden bisher geheim halten, in welches Lager er verlegt wurde, konnten wir ihm dieses Jahr nicht einmal wie sonst ein Paket senden mit ein paar Süßigkeiten. Ich werde viele Tausend Kilometer weg sein von ihm, hier in den USA: Mein Vater hat mich nach seiner Festnahme gebeten, nicht nach Russland zurückzukehren. Aus Angst, dass mir etwas zustößt. Seit 2003 habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Ich erinnere mich an einen seiner letzten Geburtstage, den wir gemeinsam feiern konnten. Er sprach damals über seine Zukunft. Und er sagte mir, dass er mit 45 aus dem Geschäftsleben aussteigen und sich nur noch um seine Stiftung „Offenes Russland“ kümmern wird, also um Bildungsarbeit. Das Gefängnis hat all diese Pläne zerstört. Mein Vater hat mich 2003 in den USA besucht, und er kehrte nach Russland zurück, obwohl er wusste, dass seine Festnahme bevorstand. Doch er wollte seinen Freund Platon Lebedew, der damals schon im Gefängnis saß, nicht allein lassen. Und er wollte vor Gericht seine Unschuld beweisen.
Er hatte sicher keine Illusionen über die russische Justiz. Aber dass alles zu einer derartigen Farce würde und die Willkür ein Ausmaß annimmt, das jeden Gedanken an Gerechtigkeit ad absurdum führt – das hatte er nicht geglaubt.
Obwohl ich mit meinem Vater seit acht Jahren nur per Brief Kontakt halten kann, prägt er mich bis heute. Er hat mir beigebracht, dass ich alle wichtigen Entscheidungen im Leben selbst treffen muss. Schon als ich noch sehr klein war, hat er mir nie etwas einfach so verboten – er hat immer erklärt, warum etwas schlecht und gefährlich ist. Und er brachte mir bei, immer ruhig zu bleiben. Er erhebt nie seine Stimme. Bei einer seiner ersten Reisen in die USA hatte ihn vor allem fasziniert, dass die Menschen hier so viel lächeln. Er hat das übernommen. Das war selbst jetzt zu sehen, bei diesem Showprozess, da stand er meistens mit einem Lächeln da. Manchmal auch mit einem Lachen, weil die Vorwürfe gar zu absurd waren.
Die fast acht Jahre im Gefängnis haben meinen Vater nicht brechen können. Selbst Leute, die ihn früher nicht mochten, haben heute Achtung vor ihm. Ich bin unendlich stolz auf ihn.