Mikhail Khodorkovsky: “Giving arms to the common people has led on several occasions to regime change”

September 28, 2022

Mikhail Khodorkovsky in an exclusive WELT’s interview with Stefanie Bolzen about Germany’s lack of leadership and the true reason for Putin’s partial mobilisation.

 

MICHAIL CHODORKOWSKI
„Geht der Westen darauf ein, steht Putin morgen an der Nato-Grenze“

Von Stefanie Bolzen

Auf Michail Chodorkowski, einst reichster Mann Russlands, hat der Kreml ein Kopfgeld von 500.000 Dollar ausgesetzt. In seinem Londoner Exil erklärt er, unter welchen Bedingungen Putin stürzen kann. Zur deutschen Zeitenwende sagt er, Olaf Scholz müsse im Nachhinein Angst vor den eigenen Worten bekommen haben.

Eine lockere Atmosphäre erfüllt das Haus im mondänen Stadtteil Marylebone, in dem die Büros der Stiftung „Open Russia“ liegen. Ihr Gründer Michail Chodorkowski lebt seit 2015 in London. Kurz vor Weihnachten 2013 verließ er Russland nach achtjähriger Haftstrafe, auf Vermittlung von Angela Merkel und Hans-Dietrich Genscher. Wladimir Putin hatte dem heute 59-Jährigen nicht verziehen, dass er 2003 öffentlich staatliche Korruption angeprangert hatte, in Putins Beisein. Chodorkowski trägt Jeans, blaues Polohemd und ein oft ironisches Lächeln im Gesicht. Anfang September brachte er ein Buch heraus, das seinen Aufstieg vom Jungunternehmer in der Perestroika zu Russlands vermögendstem Mann nachzeichnet, wie auch seinen von Putin herbeigeführten Absturz („The Russia Conundrum: How the West Fell for Putin’s Power Gambit — and How to Fix It“, mit Martin Sixsmith, Penguin).

WELT: Ist ein Sturz Wladimir Putins möglich?

Chodorkowski: Diktaturen verschwinden nicht durch Wahlen. Sondern durch Leute, die bereit sind, politisch und öffentlich eine knallharte Position einzunehmen. Das sind nicht jene, die auf dem Sofa russisches Fernsehen schauen. Sondern jene, die auf die Straße zu gehen und sich zu bewaffnen bereit sind.

WELT: Putin kann nur mit Gewalt gestürzt werden?

Chodorkowski: Ganz sicher. Diktaturen fallen durch einen internen Coup – das ist ein mögliches Szenario, das weder sicher ist, noch sollten wir diesen herbeiwünschen. Oder aber eine Diktatur fällt durch Gewalt, die eingesetzt oder angedroht wird. In Russlands Geschichte gibt es keine gegenteiligen Beispiele.

WELT: Keine Option der friedlichen Revolution?

Chodorkowski: Der Westen träumt traditionell vom guten Zar. In den letzten 100 Jahren gab es dafür nur ein Beispiel, Michael Gorbatschow. Von dem Moment an, in dem er nicht mehr nach einem äußeren Feind suchte, blieben ihm nur noch zwei Jahre an der Macht. Ein exzessiv zentralisierter Staat wie Russland braucht immer einen äußeren Feind. Die Lösung kann daher nur eine parlamentarische föderale Republik sein.

WELT: Sie sprechen vom Zwang eines äußeren Feinds. Wo steht in diesem Kontext Putins Teilmobilmachung?

Chodorkowski: Für mich bestätigt sie, dass wir Putins Fähigkeit zur Mobilmachung nicht überschätzen sollten. Eine Generalmobilmachung wagt er bisher nicht. Denn sie bedeutet, den normalen Bürgern Waffen zu geben. Das hat in der russischen Geschichte mehrfach zu einem Regimewechsel geführt. Man erinnere sich an Lukaschenko (Machthaber von Belarus, d. Red.) – der sprach auch von Generalmobilmachung. Und verkündete sie letztlich nicht.

WELT: Sie haben Putin vor 20 Jahren aus nächster Nähe erlebt. Hätten Sie ihm je zugetraut, den Befehl zum Massenmord zu geben?

Chodorkowski: Am Anfang sah ich ihn als jungen, demokratischen Bürokraten, der ernsthaft an seinen Aufgaben arbeitete. Dann entdeckten wir einen Mann, der korrupt war und das Land durch Korruption regierte. Wir entdeckten, dass er in seiner Vergangenheit immer mit Gangstern gearbeitet hatte. Im dritten Stadium sehen wir einen Mann, der eine Art Erbe hinterlassen will und überzeugt ist, es sei eine gute Idee, die Sowjetunion gewaltsam wiederzuerrichten. Für diese Idee bombardiert er seit dem 24. Februar freudig friedliche Städte. Falls all das schon vor 20 Jahren in Putin angelegt war, wusste er es gut zu tarnen.

WELT: Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?

Chodorkowski: Die Widerstandsfähigkeit der Ukraine hängt von ihrem Mut ab und den Waffenlieferungen des Westens. Fällt eines weg, kollabiert alles. Ich möchte Folgendes zu bedenken geben: Der Westen hat bisher zehn Milliarden Dollar (zehn Milliarden Euro, d. Red.) an Waffen geliefert und gezeigt, dass Putin damit gestoppt werden kann. Wenn ich heute 500 Milliarden ausgebe, weil Putin mich mit seiner Energielieferung erpresst – wäre es dann nicht besser, ich schicke der Ukraine Waffen für 50 Milliarden? Damit die Ukraine Putins Truppen verjagen kann, er gestürzt wird und der Westen normale Handelsbeziehungen mit Russland aufnehmen kann.

WELT: Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz sagt nie, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss. Was sagt Ihnen das?

Chodorkowski: Im Krieg zu sein ist für die Menschheit kein normaler Zustand. Und die Menschen verhalten sich im Krieg daher unterschiedlich. Wir wissen, was für ein Mensch Wolodymyr Selenskyj vor dem Krieg war. Ein Comedian, der Präsident wurde. Aber mit Kriegsbeginn entdeckten wir einen ganz anderen Menschen. Ich beobachte Kanzler Scholz als ein Außenstehender. Und als Außenstehender sehe ich einen in der Wolle gefärbten europäischen Bürokraten, der die Führung eines ziemlich stabilen und wohlhabenden Landes übernahm. Der auf einen Krieg völlig unvorbereitet war. Scholz ist noch immer nicht auf den Krieg vorbereitet.

WELT: Aber Scholz sprach doch von einer Zeitenwende?

Chodorkowski: Ich war überrascht, als ich ihn nach Kriegsbeginn von der Zeitenwende reden hörte. Ich habe da nur eine Frage: Wer hat diese Rede geschrieben?

WELT: Es heißt, es war Scholz selbst.

Chodorkowski: Dann muss er im Nachhinein Angst vor seinen eigenen Worten bekommen haben. Ich verstehe Deutschlands Position als eine Volkswirtschaft, die 20 Jahre lang weitgehend auf billige russische Energie baute. Es ist verständlich, dass man zu diesen fetten Jahren zurückkehren möchte. Aber ich denke, in einem Krieg muss man die eigenen Fehler schneller anerkennen. Dass Deutschland keinen Plan B für seine Energieversorgung hatte, überstürzt seine Atomkraftwerke abschaffte.

WELT: Zeigt Olaf Scholz Führung in dieser Lage?

Chodorkowski: Ein Krieg ist ausgebrochen, und der Regierungschef realisiert, dass er in dem Moment die Führung übernommen hat, in dem Fehler der Vergangenheit zum Tragen kommen. Eine Position ist, nun über der eigenen Misere zu brüten und zu sagen: Oh mein Gott, was habe ich für ein Pech. Oder aber zu einer wirklichen Führungsgestalt zu wachsen. Wir sind einer Lage, in der Winston Churchill zu Beginn des Zweiten Weltkriegs sagte: „Ich habe nur Schweiß und Tränen zu bieten.“ Was können wir da über Olaf Scholz sagen? Er ist nicht bereit, diese Führung zu übernehmen.

WELT: Wären Sie Olaf Scholz oder Emmanuel Macron – würden Sie noch mit Putin telefonieren?

Chodorkowski: Ja. Aber nicht so oft. Dank Putin habe ich viel mit Gangstern zu tun gehabt. Es ist ein wichtiger Unterschied, wenn man mit einem Gangster redet, ob er denkt, die Oberhand zu haben oder nicht. Reden ist wichtig. Man sollte mit Gangstern reden, mit Terroristen, mit jedem. Aber während man redet, sollte man genau auf die Psyche des Gegenübers achten. Das sind keine Typen, wie sie im Bundestag sitzen. Wenn du ihnen Schwäche zeigst, ihren nächsten Schritt herausforderst, haben sie keinen Respekt für dich.

WELT: Erfüllen Sanktionen des Westens aus Ihrer Sicht ihren Zweck?

Chodorkowski: Ich bin nicht sicher, ob die aktuellen Sanktionen die besten sind. Zumal die hohen Energiepreise nicht auf sie zurückzuführen sind. Denn dies ist ja nicht die erste Welle der Sanktionen, und die zerstörerischsten Sanktionen sind ohnehin die, die Putin als Reaktion selbst eingeführt hat. Putin hat die Energielieferungen zur Waffe gemacht. Damit der Westen die Ukraine nicht mehr unterstützt. Geht der Westen darauf ein, steht Putin morgen an der Nato-Grenze. Und ich habe keinen Zweifel, dass er sie aus innenpolitischen Gründen übertreten wird.

WELT: Deutschland hat sich abhängig gemacht von russischer Energie. Zugleich vermittelte Berlin 2013 ihre Ausreise. 2020 retteten deutsche Ärzte Alexej Nawalny vor dem Tod. Ist Deutschlands Umgang mit Russland schizophren?

Chodorkowski: Deutschland ist ein normales Land in einer abnormalen Zeit. Es ist doch normal, dass ich offen mit den Nachbarn handeln will, mir aber gleichzeitig deren Kätzchen leidtun (lacht). Putin hat uns zurückgebracht auf den Boden glasklarer Gewalt. Als wenn wir jetzt hier säßen, uns ganz normal unterhielten – und plötzlich stehe ich auf und zerschlage jemandem am Tisch das Gesicht. Man darf Deutschland nicht verurteilen, es ist daran nicht gewöhnt. Putin ist das Spiegelbild Deutschlands vor 80 Jahren. Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Sie wissen sicher, dass es in Russland Neonazis gibt. Einige verübten vor einiger Zeit Morde an Tadschiken in Sankt Petersburg. Nur, weil es Tadschiken waren. Einer dieser Mörder teilte mit mir eine Gefängniszelle. Er kam aus Sankt Petersburg und sagte: Hitler war ein großer Mann. Ich habe ihn gefragt: Wie kannst du so etwas sagen? Du kommst doch aus Sankt Petersburg. Während der Belagerung Leningrads durch die Nazis sind so viele Menschen gestorben. Stimmt, sagte er, meine Großmutter ist auch umgekommen. Wie konnte er eins und eins nicht zusammenzählen?

WELT: Haben Sie es ihm beibringen können?

Chodorkowski: Im Gefängnis schüttet man nicht sein Herz aus. Aber ich habe mit Interesse verfolgt, wie er in einer Arbeitsgruppe war mit vielen Tadschiken mittleren Alters. Er selber war erst 19 oder 20. Die haben ihn die ganze Zeit ausgelacht. Das war für den Jungen schwer zu verkraften.

WELT: Sie leben seit sechs Jahren in London. Haben die Sanktionen Oligarchen hier getroffen?

Chodorkowski: Ja, für einige war das ein schwerer Schlag. Ich kenne ziemlich viele Leute, die finanziell viel verloren haben. Ich habe zu ihnen gesagt: Wenn ihr trotz des Kriegs noch immer nicht die Seiten wechselt, dann sind wir ab jetzt Gegner.

WELT: Wie viele haben das getan? Wie viele von, sagen wir, zehn Oligarchen?

Chodorkowski: (überlegt) Zwei. Von zehn nur zwei. Die anderen haben offensichtlich zu viel Angst vor Putin. Es gibt eine Art chinesisches Schimpfwort: Ich wünsche dir, in Zeiten des Wandels zu leben. Offenbar bin ich mit diesem Fluch belegt, wie auch viele andere.

WELT: Warum sollten die Leute dem trauen, was Sie sagen? Sie sind immer noch sehr reich.

Chodorkowski: Es ist doch etwas merkwürdig, jeden vermögenden Russen als Teil von Putins Entourage zu betrachten. Ich bin seit mehr als 20 Jahren nicht mehr Teil dieser Zirkel. Zu meinem großen Bedauern habe ich in Russland nur noch sehr wenige Menschen, die ich Freunde nennen kann. Und der Bruch ist durch den Krieg noch tiefer geworden.

WELT: Angela Merkel hat in einem ihrer wenigen Auftritte seit Kriegsbeginn gesagt: „Trotz des Krieges in der Ukraine verschwindet Russland nicht von der Landkarte.“  Sehen Sie das anders?

Chodorkowski: Nein. Da bin ich mit Angela Merkel einer Meinung. Nehmen wir einige Leute in den baltischen Staaten, die jetzt keine Visa mehr für Russen wollen. Russland verschwindet nicht von der Landkarte, es wäre dumm, sich gegen die Unterstützer des Westens in Russland abzuriegeln. Persönliche und kulturelle Kontakte, Kontakte von Universitäten sind essenziell.

WELT: Aber Ihre Landsleute sind seit Jahren Putins Gehirnwäsche ausgesetzt?

Chodorkowski: Immerhin sagen 20 Prozent der Russen in Umfragen, der Westen sei nicht ihr Feind. Wissend, dass diese Umfragen auch an die Geheimdienste gehen.

WELT: Der Kreml hat im März 2021 ein Kopfgeld in Höhe von 500.000 Dollar auf Sie ausgesetzt. Leben Sie in Angst?

Chodorkowski: Das lässt mich natürlich nicht vollkommen unberührt. Zumal die Grenzen dieser Möglichkeit sich ständig bewegen. Mich inspiriert es in Anführungszeichen, dass Jewgeni Prigoschin (ein Putin-Vertrauter, d. Red.) nun schon Soldaten in Gefängnissen rekrutiert – unter ihnen einen Kannibalen.

WELT: Sie haben bereits den englischen Humor verinnerlicht?

Chodorkowski: Einen Sinn für Humor hatte ich schon, bevor ich nach England kam. Aber der englische Humor passt gut mit meinem zusammen.

Originally published in the WELT

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